Evin Rosetta Stone

Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Gnädigen [*]

Nummer:                                                            Datum: 20. April. 1985 [**]

Von Qodratollah Khatiri, Sohn des Mokhtar

Meine liebe Frau, ich übersende dir einen Gruß voller Freundschaft. Gib dem kleinen Siyavasch und der schönen Mariyam einen Kuss von mir.
Grüße meinen Vater von mir und sage ihm, dass ich für sein Bestes bete. Meinen Brüdern, Schwestern, ihren Kindern und der übrigen Familie übermittle meinen Gruß und meine besten Wünsche. Meine Liebste, dafür, dass du diese Mühe auf dich genommen hast und die Besuche des letzten Jahres zu einem freudigen Ereignis gemacht hast, die Kälte und die Hitze ertragen hast und dich jedesmal zum Besuch eingefunden hast, bin ich dir dankbar.
Gott möge dir Geduld, Ausdauer und Einsicht gewähren, damit du diese göttlichen Gaben nutzen und die Kinder, meinen Vater
und dich selbst gut über die Runden bringst. Meine liebe Frau, zusammen mit dem Frühling dieses Jahres hoffe ich, dass dein guter Charakter und dein lobenswertes Verhalten den Kindern und meinem Vater eine Hilfe ist, besonders in geistiger Hinsicht und mit Hinblick auf die Ernährung. Denn das Alter der Kinder und meines Vaters erfordern eine gesunde Ernährung und eine gute Denkweise. Ich hoffe, dass ihr alle vollständig gesund seid.
Euer Qodrat.

Absender:   Ewin-Gefängnis, Hochschule des Märtyrers Katschui, Saal 5, Zelle 108, Qodratollah Khatiri, Sohn des Mokhtar [***]

(translation Ali Shirasi)

Anmerkungen
[*]  vorgedruckter Standardsatz
[**] Datum entsprechend dem westlichen Kalender, im Original 31.1.1364
[***] auf der Rückseite des Briefes


Der Verfasser dieses Briefes vermeidet systematisch die Erwähnung Gottes, Chomeinis oder des islamischen Regimes, was den Behörden anzeigt, dass er sich dem Regime nicht unterworfen hat und nicht „bereut“. Das einzige Mal, wo Gott erwähnt wird, dient der Absicherung des Gefangenen, nicht als gottlos eingestuft zu werden.
Im ersten Satz wird nicht Gott, sondern die Liebe zu Frau und Kindern erwähnt. Der Autor schreibt über den Frühling, dessen Beginn mit dem vorislamischen Neujahrsfest Nourus verknüpft ist, dessen Ausrottung den Geistlichen trotz aller Anstrengung nicht gelungen ist.
Dass bei den Besuchen nicht nur Kälte und Hitze, sondern vor allem die Schikanen der Gefängnisbeamten zu erdulden sind, ist der Empfängerin bewusst. Dass der Schreiber seiner Frau Geduld und Ausdauer wünscht, hängt mit der erniedrigenden Situation der Angehörigen zusammen, die vor dem Gefängnis auf eine Zulassung zum Besuch warten.
Das persische Wort für "Einsicht" - tafakkor, heißt eigentlich "Nachdenken". Hier versteckt sich kein männliches Überlegenheitsgefühl gegenüber der Frau, vielmehr verbirgt sich dahinter eine Gegenposition zur Meinung der Ajatollahs, für die die Gläubigen nur dummes Vieh sind, das jeglicher Einsicht und selbständigen Denkens unfähig ist, weshalb die Ajatollah sich anmaßen, eine "Herrschaft der Rechtsgelehrten" - also eine religiöse Diktatur - zu begründen.Wenn "eine gesunde Ernährung und eine gute Denkweise" so nah beeinander stehen, wird deutlich, dass hier vor allem geistige Nahrung gemeint ist. Nicht der islamistische Propagandamüll, mit dem die Kinder in den Schulen indoktriniert werden, sondern das, was wichtig ist, um einen kritischen Geist zu entwickeln.

Die Gefängnisadresse, in der hochtrabend von einer „Hochschule des Märtyrers Katschui“ die Rede ist, bedarf ebenfalls einer Erklärung: Katschui war der Vorgänger von Ladschewardi, des Gefängnisdirektors von Ewin (großes Gefängnis vor Teheran). Katschui war direkt an Folterungen und Hinrichtungen beteiligt. Ein Wärter, der diese Scheußlichkeiten mitansehen musste, hielt es nicht mehr aus und erschoss den Direktor Katschui. Das war dann ein „Märtyertod“...
Während man sich unter Hochschule doch eher eine geistige Lehranstalt vorstellt, war die Praxis im Ewin-Gefängnis völlig anders: Die Gefangenen sollten durch Folter, Zerbrechen der Persönlichkeit und durch ständige Zwangsindoktrinierung mit islamischen Predigten und Zwangsgebeten dazu gebracht werden, „gute Muslime“ zu werden.
Das Zentrum der „Hochschule“ war ein Gebetshaus, in dem jeden Tag 2000 Gefangene, nach Geschlechtern getrennt, versammelt wurden und unter Aufsicht die Gebetsriten vollziehen mussten – Widerspenstige wurden von den Wärtern rausgeholt und gefoltert. Es war dies der einzige Ort im Gefängnis, den ausländische Reporter zu Gesicht bekamen, und natürlich durften sie auch mit den zu diesem Anlass ausgesuchten „reuigen“ Gefangenen Interviews führen.